Dr. Tom Schmid, ehemaliger SPÖ-Gemeinderat in Baden, arbeitet als Sozial-Ökonom am Sozialökonomischen Forschungsinstitut in Wien. Seit drei Jahren forscht er im Zusammenhang mit Pflege und präsentiert jetzt im Interview Zahlen und Erkenntnisse für die aktuelle Pflege-Debatte. Er warnt davor, das Problem zum Wahlkampf-Schlager zu degradieren. Denn die Zeit für fundierte Lösungen brennt…
************************************
Sie präsentierten kürzlich die Forschungsergebnisse der Sozialökonomischen Forschungsstelle Wien zum Thema 24-Stunden-Pflege. Und warnen davor, dass das Pflege-Thema zu einem Zankapfel im Wahlkampf abgewertet wird. Ist die Situation tatsächlich so dramatisch?
Dr. Tom Schmid: Klar ist: Wenn die Probleme nicht rasch gelöst werden, werden sie sich spätestens am 1. Mai 2011 radikal in Erinnerung rufen. ZDann fallen nämlich die Übergangsbestimmungen am Arbeitsmarkt. Was bedeuten wird, dass den heutigen PflegerInnen ab dann der gesamte österreichische Arbeitsmarkt offen steht und sie dort hin wechseln werden, wo sie besser verdienen. Auf einen Schlag könnten geschätzte 10.000 Personen ohne nötige Rundum-Betreuung dastehen. Die Pflegeheime wären überlastet. Und der Druck auf Töchter oder Schwiegertöchter, sich kostengünstig der Pflege zu widmen, wird steigen – ein ewiges Frauenschicksal?
Verschiedene Lösungsansätze werden derzeit ständig genannt: Einkommensuntergrenzen senken, Umwandlung des Pflegegeldes in eine Sachleistung. Wie bewerten Sie diese?
Schmid: Zur Senkung von Einkommensuntergrenzen von Schlüsselkräften – von 1500 Euro auf 1200 Euro: Legale Dienste würden davon profitieren, Familien könnten sich das aber trotzdem nicht leisten. Und eine 24-Stunden-Beschäftigung wäre arbeitsrechtlich nicht legal.
Die Umwandlung des Pflegegeldes in eine Sachleistung würde eine Vervielfachung der Kosten bedeuten. Das Pflegegeld versteht sich heute als pauschalierter Zuschuss zu den tatsächlichen Pflegekosten. Durchschnittlich stehen aus dem Pflegegeld 4 Euro pro Pflegestunde zur Verfügung – der Bruchteil der Kosten für eine legale Pflegestunde.
Wieviel Geld wird in Österreich für die Rundum-Pflege daheim eigentlich ausgegeben?
Schmid: Wenn ich von einer zurückhaltenden Schätzung von 20.000 ausländischen (organisierten) 24-Stundenkräften ausgehe, die jeweils 14 Tage am Stück in einer Familie unterstützend tätig sind, kommt man auf 10.000 rundum-gepflegte Personen pro Tag. Bei einem Mittelwert von 50 Euro pro Tag ergibt das ein gesamtes Jahresvolumen von 182,5 Millionen Euro pro Jahr. Da im Jahr insgesamt 1,7 Milliarden Euro an Pflegegeld ausgeschüttet wird, bedeutet dass, dass rund 11 % des gesamten Pflegegeldvolumens exportiert wird.
Tatsächlich spricht man ja heute von 40.000 bis 60.000 ausländischen Pflegekräften…
Schmid: Es gibt keine verlässlichen Zahlen, daher sind Schätzungen zulässig. Unsere Annahme geht von den uns bekannten einschlägigen rund 25 Agenturen aus, von der Zahl der bei ihnen registrierten Pflegekräfte. Die meisten Agenturen sind allerdings recht schweigsam. Zu den von uns geschätzten 20.000 Agentur-Pflegekräften gibt es wohl auch noch eine unbekannte Zahl von direkt vermittelten haushaltsunterstützenden und pflegenden Kräften. Im Vergleich gibt es in Österreich 7800 auf Vollzeitäquivalente hochgerechnete Beschäftigte in den legalen mobilen Diensten.
Warum sind die Agenturen so beliebt?
Schmid: Die Ausbildung der vermittelten Pflegekräfte ist sehr gut, ein Relikt aus der kommunistischen Zeit. Heute wandert das Pflegepersonal ins nahe Ausland ab, wegen der höheren Löhne. In Österreich verdienen die Pflegekräfte 40 – 60 Euro am Tag – für 14 Tage wären das 560 bis 840 Euro. Das ist fast das Doppelte von dem, was in einem tschechischen Krankenhaus zu verdienen ist. Eine österreichische Familie muss also zwei Pflegekräfte im Monat beschäftigen und mit Kosten von 1120 bis 1680 Euro rechnen. Allerdings nur reine Pflegekosten! Die Agenturen können meistens innerhalb von 48 Stunden eine Pflegekraft bereitstellen und diese auch auswechseln, wenn es Probleme gibt.
Also ein illegaler Markt, der gut funktioniert?
Schmid: Die Agenturen versuchen, die Illegalität zu umgehen, indem sie sich als Verein oder als Stiftung deklarieren. Und sowohl die pflegebedürftigen Personen und deren Familien als auch die Pflegekräfte sind als Stiftungs- oder Vereinsmitglieder eingetragen. Jede Hilfeleistung kann dann auch als durchaus legale Hilfe unter Vereinsmitgliedern verstanden werden. Es ist noch kein Fall ausjudiziert. Nicht vergessen darf man, dass in so einem „Arbeitsverhältnis“ keinerlei soziale Absicherung existiert. Weder Pflegepersonen noch die Familien haben einen rechtlichen Anspuch auf juristischen Beistand, wenn etwas passiert oder schief läuft. Die Pflegepersonen selbst befinden sich in einer psychisch schwierigen Lage: An wen wenden sie sich, wenn sie in den Familien, wo sie ja auch wohnen, schlecht behandelt werden oder sich überfordert fühlen, fern ab von ihren Familien und Freunden. Viele Familien sind nicht mit Hebehilfsmitteln ausgestattet, für Pflegekräfte bedeutet das körperliche Schwerarbeit.
Welche Lösungsvorschläge bietet die Sozialökonomische Forschungsstelle?
Seriöserweise können auch wir keine Pauschal-Lösungen anbieten. Deshalb halte ich die angekündigten Pflege-Enqueten und entsprechende fachliche Diskussion für höchst notwendig. Das Thema darf nicht zum Zankapfel im Wahlkampf abgewertet werden. Aus unserer Sicht wäre es wichtig, Rechtssicherheit zu schaffen. Man darf aber nicht vergessen, dass jede sich dadurch ergebende Verteuerung der 24-Stunden-Betreuung von den meisten Haushalten nicht leistbar sein würde. Es wird also politisch zu klären sein, woher das nötige Geld kommen soll. Klar muss uns sein: Der Staat hat die Pflicht, sich um ältere Menschen zu kümmern und dafür zu sorgen, dass sie ihr Alter in Würde verbringen.