Ich sehe Stefan Hecher zum ersten Mal, wie er bei der No Problem-Gala in Baden mit Zirkusmann Daniel Morelli bunte Tücher schwingt. Ein nettes Fotomotiv, denke ich, und spreche den blonden Buben an. „Darf ich dich fotografieren?“ Er sieht mich an – oder durch mich hindurch? Hat er mich nicht gehört? Ich wiederhole meine Frage. Dann ist schon seine Mutter an meiner Seite. „Er kann Sie nicht verstehen“, sagt sie. „Er leidet am Landau-Kleffner-Syndrom, einer Art Sprachverständnisstörung.“
Und dann beginnt sie zu erzählen. Sie erinnert sich, als Stefan drei Jahre alt war. Er hatte schon zwei ältere Brüder, aber irgendwie funktionierte die Kommunikation mit ihm nicht. Er redete langsam, undeutlich, bildete nur Zwei-Wort-Sätze, war immer wieder stark verkühlt. „Eineinhalb Jahre haben wir nach der Ursache des Problems gesucht. Wir suchten Logopäden auf, ließen sein Gehör checken, das tadellos war. Ärzte empfahlen uns, seine Mandeln und Polypen operieren zu lassen,“ erzählt Gertraut Hecher (53). Erst ein Kinderarzt, den sie zufällig im Urlaub kennen lernten, und eine Logopädin äußerten den Verdacht, Stefan könnte am Landau-Kleffner-Syndrom leiden. Diese Art Epilepsie, die auf das Sprachzentrum wirkt, wurde erst 1996 entdeckt und ist noch wenig erforscht. Weltweit sollen etwa 200 Erkrankungen dokumentiert sein.
Für die Familie Hecher, wohnhaft in Kirchberg/Wechsel, begann eine schwere Zeit. Mama Gertraut und Papa Friedrich, beide Musikerzieher mit künstlerischer Ausbildung, quälten sich mit der Schuldfrage, suchten verzweifelt eine Kommunikationsmöglichkeit mit ihrem jüngsten Sohn, suchten Behandlungsmöglichkeiten, ein Heiler wurde zu Rate gezogen. „Auch für Stefan muss es die Hölle gewesen sein. Wir verstanden nicht, was er wollte, missdeuteten seine Äußerungen, verloren manchmal die Geduld. Auch Stefan zuckte manchmal aus. Kein Wunder, war er doch in seiner eigenen Welt gefangen.“ Die ganze Familie erlernte die Gebärdensprache, was die Situation schließlich erleichterte.
Heute ist Stefan 10 Jahre alt, Schüler der Waldschule in Wr. Neustadt. Und im Sommer – sein jüngstes Schwesterchen Annamaria ist inzwischen 4 Jahre alt – zeigte sich endlich „Licht am Horizont“. Die Familie war per Auto im Raum Grimmenstein unterwegs. Auf einer Wiese weideten Kühe. „Ich wollte meiner Jüngsten die Kuh zeigen,“ erzählt Gertraut Hecher „und animierte Stefan ebenfalls, den Laut „Muh“ nachzuahmen. Sie können sich mein Glück nicht vorstellen, als dies Stefan gelang! Plötzlich hat sich ein riesiger Knoten in mir gelöst. Jetzt spüre ich, dass das Leben wieder fließen kann.“
Inzwischen kann Stefan wieder Wörter wie Moped, Auto, Haus, Baum und ähnliches sagen. Mit dem „r“ tut er sich noch schwer. Spontanheilungen dieser langwierigen Kinder-Krankheit sind mit Beginn der Pubertät dokumentiert, aber noch nicht erklärt. Die leidgeprüfte Familie schöpft neue Hoffnung – und ist bereit, ihre Erfahrungen auch mit anderen Betroffenen zu teilen. „Hier in der Region ist mir kein Fall bekannt,“ sagt Gertraut Hecher. „Aber vielleicht hilft dieser Artikel, dass jemand diese seltene Krankheit an seinem eigenen Kind entdeckt. Wir würden dann gerne unsere Erfahrungen teilen.“